Liebe Leserin, werter Leser,
wenn Ihnen demnächst auf der Straße ein Mann mit deutlich geröteten Augenrändern begegnen sollte, so handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um den Autor dieser Zeilen. Dieser reibt sich nämlich schon seit geraumer Zeit seine Augen vor Verwunderung darüber, was da gerade so alles auf Ebene der Weltpolitik vor sich geht. Und mit solchem Augenreiben wird der Autor kaum alleine bleiben. Angesichts der aktuellen Vorgänge am Schachbrett der Weltpolitik fühlt man sich irgendwie in die Zeit des Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert zurückversetzt und das war bekanntlich die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Nach der Zeit Vor dem Ersten Weltkrieg folgte die Zeit des Ersten Weltkriegs und danach folgte die Zeit Nach dem Ersten Weltkrieg. Viel Vergnügen also mit den folgenden Ausführungen!
Es geht hier um die gerade stattfindende strategische Neuorientierung bzw. den Versuch verschiedener Staaten und Interessengemeinschaften die strategischen Felder auf dem Globus neu zu besetzen. Dabei offenbart sich in vielen Fällen (eben nicht in allen), dass die Akteure dieses gegenwärtigen Great Game, auf dem Schachbrett Planet Erde versuchen, mit den Denkweisen des 19. Jahrhunderts Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Das wird nicht gehen. Diejenigen Spieler, die das als erstes verstanden haben, werden das Spiel gewinnen.
Die Analogie derartiger Vorgänge zum Schachspiel stammt vom Godfather der US-amerikanischen Geostrategie Zbigniew Brzezinski (1928-2017) der 1997 in seinem Buch The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives seine Vorstellungen zur neuen Weltordnung, einer Art Pax Americana, niederlegte und dabei deutlich machte, dass der Grundstein dazu in den richtigen Spielzügen am „Eurasischen Schachbrett“ gelegt wird. Brzezinski sah dabei einen Dreh und Angelpunkt für das Ansetzen der US-Strategie auf dem Schachfeld mit der Bezeichnung U7. Neben U7 nennt Brzezinski auch die Felder Aserbaidschan, Südkorea, Türkei und Iran als Schlüsselzonen für die amerikanische Schach-Strategie. Übrigens! Wichtig zu wissen: der Westen spielt immer mit den weißen Schachfiguren!
Während der deutsche Ex-Außenminister Hans Dietrich Genscher das Vorwort für die deutschsprachige Ausgabe von Brzezinskis Buch geschrieben hat, hat sein vormaliger Bundeskanzler Helmut Schmidt dazu in DER ZEIT (Nr. 45/1997) eine Rezension veröffentlicht, die mit den Worten beginnt: „Zbigniew Brzezinskis Buch wird eine kontroverse Debatte auslösen – zumindest in Europa, in China und in Russland. Schon der deutsche Titel „Die einzige Weltmacht“ macht ein höchst provokantes amerikanisches Selbstbewusstsein überdeutlich. Aber auch der original amerikanische Untertitel „American Primacy und Its Geostrategic Imperatives“ plakatiert nicht gerade Rücksicht auf andere Nationen und Staaten und auf ihre legitimen Interessen. Gleichwohl: Man muss dieses Buch zur Kenntnis nehmen, und man muss es ernst nehmen.“ Nun, die Debatte wurde ausgelöst und brachte einige interessante Beiträge hervor. Insgesamt ist aber bald klar geworden, dass Brzezinski bei seinen Ausführungen nicht die gesamten Dynamiken, die sich auf den Feldern des Schachbretts entwickelt haben, ausreichend im Auge hatte und so musste der Autor später selbst einräumen, dass er die sich entwickelnden Kräfte Chinas und die daraus folgenden Effekte unterschätzt habe.
Um es erst einmal zu verdeutlichen: Beim Schachspiel geht es darum, dass sich zwei, in jeweils einer Formation Schachfiguren symbolisierte gegnerische Heere oder auch Gesellschaften auf einem Spielbrett gegenüberstehen und so lange auf einander einschlagen, bis eine der beiden Seiten K. O. geht. Gewonnen! Passionierte Freunde des Schachspiels mögen ihr Spiel jetzt missverstanden sehen, aber Brzezinskis Bild des Weltgeschehens ist doch schon sehr interessant (und angeblich aus Kindheitserlebnissen gespeist). Es gibt übrigens noch die selten auftretende Möglichkeit, dass es im Schachspiel zu einer Pattsituation kommt, sozusagen schachpatt statt schachmatt. In der realen Welt hat sich so eine Pattsituation gewissermaßen mit dem Kalten Krieg eingestellt und im Vergleich zur heutigen Lage muss man leider sagen: das Schlechteste war das nicht. Die weißen Figuren haben damals aber versucht, dieses Patt unter anderem über den Hebel Afghanistan aufzulösen und das ist in gewisser Hinsicht auch gelungen.
Und so begab es sich, dass die Weißen in ihrer ungestümen Art das Schachspiel zu führen, mit zunehmenden Verlusten bzw. Bumerangeffekten zu kämpfen hatten. Das Problem bei einer zu offensiven Spielweise liegt einerseits darin, dass man dadurch dem Gegner Konterchancen eröffnet und dieser dann die eine oder andere Figur aus der Formation herausschießen kann. Andererseits werden zu viel Kräfte (materielle wie immaterielle) auf das Angriffsziel fokussiert, die anderswo letztendlich notwendiger gebraucht werden würden. Mindestens 6,4 Trillionen Dollar wurden von den Weißen in den letzten knapp 20 Jahren beim Schachspielen in die Luft geblasen. Irgendein nennenswerter Gegenwert als Gewinn konnte dagegen nicht ausgemacht werden. Für die Klima-Bewegten unter uns sei noch dazu gesagt, dass sich dieses hübsche Sümmchen in der Atmosphäre in 1,2 Billionen Tonnen sog. Treibhausgase verwandelt hat.
Auf diese Art und Weise ist das System der Weißen immer mehr in Gefahr geraten, zu kippen und in der Selbstauflösung zu enden. In dieser Situation wurde bei den Weißen die Königsfigur ausgetauscht, in der Hoffnung, das System so wieder stabilisieren zu können. Doch dieser Vorgang hat bei den Läufern und Bauernfiguren massive Proteste ausgelöst, die sich bis heute nicht wirklich beruhigt haben. Das Problem bei den Bauernfiguren im Schachspiel ist jedoch, dass sie nur halb so groß, bzw. hoch sind wie der König oder die strategisch wichtigen Figuren und daher das Schachfeld nicht so richtig überblicken können…. So nimmt es kein Wunder, dass die Bauern (wir befinden uns immer noch am Schachbrett) damit Schwierigkeiten haben, die Entwicklungen am Spielfeld richtig einzuordnen und daher vielfach ihre Perspektiven an früher eingeübtem Verhalten ausrichten.
Zunächst ist jedoch zu bemerken, dass ein Vorgang im weiteren Umfeld des neuen Königs bei den Beobachtern weltweit für allgemeines Augenreiben gesorgt hat, nun allerdings gegen den Uhrzeigersinn. Auslöser dieser Verwunderung ist das Auftauchen eines neuen außenpolitischen Think Tanks bzw. einer Denkfabrik, die das nicht gerade arm bestellte Feld an Denkfabriken im Land des Königs um eine weitere bereichert, diesmal aber ausnahmsweise tatsächlich etwas Neues hervorbringen möchte. Dieses Neue besteht einerseits in der Erkenntnis, bzw. dem Willen, das ewige Kriegführen der Weißen, wie es sich (nicht erst) mit dem War on Terror seit 2001 eingebürgert hat, zu beenden. Andererseits aber auch darin, dass die treibenden Kräfte zur Gründung dieses Think Tanks nicht aus den unmittelbaren Machtzirkeln stammen, wie etwa das prominente Mitglied der Iran-Lobby in der Hauptstadt Trita Parsi.
Dabei ist das schier Unglaubliche gelungen, nämlich zwei der einflussreichsten Puppenspieler, die dem jeweils entgegengesetzten politischen Spektrum des Landes angehören und zu dem Kreis derjenigen zählen, die normalerweise die Schachfiguren bewegen, als Finanziers für die neue Schöpfung zu gewinnen. Die Beobachter sind darüber nicht wenig aus dem Häuschen gewesen und tun sich wirklich schwer damit, diese neue Konstellation am Sektor der Denkfabriken einzuordnen. Was hat das zu bedeuten?
Der vielfach geäußerten Vermutung, dass sich die neue Denkfabrik, tatsächlich gegen die Administration des Königs richtet, wird man sich wahrscheinlich anschließen müssen. Man kann es aber umgekehrt, bzw. gleichzeitig auch als Nachhilfe-Institution für den König interpretieren. Darauf würde zum Beispiel folgendes Zitat hindeuten: „Das (gemeint ist die Lage am Schachfeld Syrien. MiSchü) ist also keine Situation, die der jetzige König der weißen Figuren geschaffen hat. Tatsächlich ist es eine Situation, die er geerbt hat. Auf seine Art scheint er den Wunsch zu haben, die Weißen aus diesem Chaos herauszuholen, obwohl er, wie ich bereits sagte, tatsächlich keine Ahnung hat, wie er das auf sinnvolle Weise tun soll. Ich halte es jedoch für wichtig, dass wir nicht aus den Augen verlieren, dass die katastrophale Entwicklung der Spielführung der Weißen im Nahen Osten in der Verantwortung beider Parteien und mehrerer Regierungen liegt. Wenn wir diese Geschichte nicht anerkennen können, werden wir meines Erachtens nicht in der Lage sein, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen.“
Das Zitat wurde vom Verfasser leicht Richtung Schachspiel verändert. Es stammt von einem der führenden Gesichter der neuen Denkfabrik, Andrew Bacevich, der als Präsident der Einrichtung fungiert. Bacevich ist Vietnamkriegs-Veteran und emeritierter Professor für internationale Beziehungen und Geschichte an der Boston Universität, sein Sohn fiel 2007 im Irak. Bacevich dürfte also wissen, wovon er spricht. Ihm zur Seite steht eine Suzanne DiMaggio als Executive Direktor des Boards der Denkfabrik. DiMaggio spielt die Rolle einer prominenten „Hintergrund-Agentin“ der Diplomatie und ist speziell auf solche internationale Felder angesetzt, auf denen Sprachlosigkeit herrscht. Sie hat den Gesprächskontakt des Königs mit Nordkorea eingefädelt und hat schon bald nach der Jahrtausendwende inoffizielle Kontakte zum Iran aufgebaut, die die Grundlage für den Einstieg in die späteren (zunächst geheimen) Gespräche der Weißen mit dem Iran gebildet haben (Atomgespräche). DiMaggio ließ bei der Auftaktveranstaltung der neuen Denkfabrik mit dem Statement aufhorchen, dass es ein „kritischer Fehler“ gewesen sei, sich in der Auseinandersetzung zwischen dem Iran und Saudi Arabien auf die Seite einer der beiden Konfliktparteien zu stellen, hier eben auf die Seite der Saudis. So habe man die eigene potentielle Rolle als ehrlicher Makler beschädigt. Die USA hätten aber eine größere Rolle einnehmen müssen, nämlich als Mediator und Ermutiger für die beiden Staaten, zusammen zu kommen, denn das müsse man schon sehen, dass die Lösung für die Konflikte in der Region über Teheran und Riad laufe. DiMaggio machte dabei klar, dass die US-Diplomatie kräftig abgewirtschaftet habe und es daher zunächst mal gelte, eine neue Generation fähiger Diplomaten heranzuziehen. Diplomatie müsse den unbedingten Vorrang haben vor kriegerischen Interventionen und das Militär verstehe sich eigentlich selbst in der Rolle, dass es der Diplomatie Rückhalte gebe und sie absichere und nicht umgekehrt.
Der schon erwähnte umtriebige Trita Parsi und seine Gründungskollegen der Denk-Institution haben bei der Aufnahme des Personals für die neue „Fabrik“ darauf geachtet, nur „Arbeiter“ an Bord zu holen, die nicht direkt dem Polit-Zirkus der Hauptstadt entstammen und so finden sich hier eine Reihe interessanter Persönlichkeiten, Männer wie Frauen, die für die neue Denkfabrik das Denken übernehmen sollen. Daran zeigt sich, dass der Diskurs über das weltpolitische Verhalten der Weißen viel breiter und intellektuell anspruchsvoller aufgestellt ist, als es die Berichterstattung in unseren etablierten Medien vermuten ließe. Unter anderem taucht unter diesen „Arbeitern“ auch der schon einschlägig bekannte John Mearsheimer auf, dessen Strategie offenbar u. a. darin besteht, die offizielle Sichtweise zu übernehmen und daraus Querschläger zu formen. Nachdem die Lage am Schachfeld U7 vollends aus dem Ruder gelaufen gewesen ist, ist Mearsheimer wie ein Prophet durch Europa gereist, um seine Interpretation der Vorgänge zum Besten zu geben und so einen Denkanstoß für die Weißen zu liefern, aus der selbstgewählten Falle wieder herauszukommen. Die etablierten Medien sahen aber geflissentlich weg, und so verebbten Mearsheimers Bemühungen schließlich in den Kreisen einiger engagierter, aber machtloser Umdenker.
Das alles beantwortet aber noch nicht die Frage, wieso die beiden erwähnten (und andere) prominenten Geldgeber sich hinter das ungewöhnliche Institut gestellt haben. Wir werden diese Frage hier auch nicht endgültig beantworten können, aber in eine gewisse Richtung zeigen, können wir schon:
1. DiMaggio sagte bei der schon erwähnten Veranstaltung, sie „lese die amerikanische Öffentlichkeit“ derart, dass diese genug habe von den endlosen Kriegen und dass diese verstanden habe, „that Washington is broken“ und auch, dass die außenpolitischen Entscheidungsfindungen „broken“ seien. Sofern DiMaggio recht hat, ist es also anzunehmen, dass auch Macht-Eliten einen derartigen Stimmungswechsel nicht völlig ignorieren können und daher vorausschauend denken. Denn es wird schon deutlich, dass die tragenden Konstruktionsstrukturen im Hause mehr und mehr nachgeben.
2. Den Weißen ist klar geworden, dass am anderen Ende des Schachbretts bei den schwarzen (den dunklen) Figuren neue Spieler aufgetaucht sind und diese Spieler verstehen das Schachspiel ziemlich gut. Vor allem diejenigen Spieler, die im Kreml in Moskau sitzen, spielen auffallend smart. Die haben alles, wovon DiMaggio träumt. Das Wissen, was sie wollen, eine gut aufgestellte Diplomatie und ein starkes Militär, das der Diplomatie Rückhalt gibt und Autorität verleiht. Und dann kommt noch etwas dazu: Moskau und sein Militär ist stark geworden, sehr stark sogar, aber trotzdem fehlt auf absehbare Zeit das Potential zur Durchsetzung globaler, imperialer Herrschaftsansprüche. Doch gerade diese Schwäche in der Stärke macht Moskau für Partner attraktiv. Die Spieler in Moskau sind alleine schon aus dieser Zwiespältigkeit heraus stärker darauf angewiesen, sog. Win-Win-Situationen herzustellen.
3. Das ist wohl die härteste Lektion für die weißen Spieler, insbesondere im Land des Königs: Trotz aller imperialen Dominanz, trotz der etwa 700 bis 800 Militärbasen weltweit, trotz der endlosen Kriege zur Durchsetzung eigener Interessen haben sich die globalen strategischen Gewichte verschoben und zwar zu Ungunsten der Weißen hin zu den schwarzen Figuren. Das ist eine ernüchternde Erkenntnis, die aber in Wirklichkeit so neu nicht ist. Die Frage ist eben, wie man mit dieser Erkenntnis umgeht. Wir schrieben ganz am Anfang, dass uns unsere jetzige Zeit an den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert erinnert. Auch damals veränderten sich die strategischen Rahmenbedingungen, obwohl die einzige Weltmacht Großbritannien alles im Griff hatte. Alle Beteiligten waren damals daher gefragt, ihre Positionen am Planeten neu zu definieren. Letztendlich versuchte man diese Neudefinition per Waffengewalt durchzusetzen, was aber ordentlich schief gegangen ist.
Eine solcherart Neudefinition ist heutzutage schon allein deshalb nicht mehr so einfach möglich, da die Spieler im Kreml vor kurzem eine Waffe von völlig neuer Dimension in Dienst gestellt haben, eine große Hyperschall-Rakete, also eine Rakete, die sehr schnell ist. Unsere westlichen Standard-Medien berichteten artig von dem Ereignis, vergaßen aber hinzuzufügen, dass es sich bei der neuen Waffe um einen echten „game-changer“ handelt, der aufgrund seiner technischen Überlegenheit das „Sicherheitsgefüge“ völlig verändert und damit Teil der sich wandelnden Verhältnisse ist. Es war dann die New York Times, die nach Ablauf einiger sehr langer Schrecksekunden einen Analysten der neuen Denkfabrik bat, ihren Lesern zu erklären, was die neue Waffe tatsächlich bedeuten könnte. Die Schachspieler im Kreml werden damit für einige Jahre, wenn nicht sogar ein ganzes Jahrzehnt, die einzigen sein, die diese und andere neue Technologien besitzen und da wäre eigentlich für die Weißen der Punkt gekommen, umzudenken.
Insbesondere die weißen Bauernfiguren sollten jetzt einmal ganz schnell lernen, zu verstehen, was gerade vor sich geht. Sonst könnte es bald einmal um sie geschehen seien. Die Bauernfiguren werden beim Schachspiel immer als erstes geopfert, denn sind ja nicht so wichtig. Was wir auf jeden Fall aus dem Lauf der Geschichte erkennen können, ist, dass die Sprache der Macht offenbar kein probates Mittel ist, Einfluss auf Dauer zu erhalten. Leben bedeutet Veränderung und Macht tendiert dazu, Veränderung zu blockieren. Das geht oft nur unter Einsatz enormer Mittel, die aber dem Machtträger irgendwann einmal fehlen werden. Darin liegt auch der tiefere Grund, wieso in der theoretischen Konstruktion von Demokratie Macht nur auf Zeit verliehen wird. Wer also seinen Einfluss bewahren möchte, muss die Sprache der Veränderung lernen. Wer sie nicht lernt, scheidet irgendwann aus. Michail Gorbatschow drückte das in dem bekannten Wort aus: „Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte.“
Da Veränderung letztendlich stärker ist als Macht, steht die Welt jetzt wieder in einer Phase der Reaktion auf die stattfindende Veränderung. Dabei versuchen Staaten und Interessengemeinschaften einerseits (erfolglos) alte Strukturen aufrecht zu erhalten oder aber andererseits sich neu zu positionieren. Das ist ein Prozess, der sehr chancenreich sein kann, allerdings auch sehr gefährlich. Daher wird das nächste Jahrzehnt, insbesondere die Jahre bis 2025, eine Zeit des Luft-Anhaltens werden. Es sei denn, man versteht diesen Prozess bewusst zu gestalten.
Die Transsib
Um ein wenig die Dynamik von Veränderung zu verstehen, wagen wir jetzt den tiefen Blick in die Augen der Geschichte. Verschiedene Assoziationen, die bei diesem Blick geweckt werden, lassen wir am Besten an uns vorüber ziehen.
Aus diesen Augen der Geschichte blickt uns Mütterchen Russland entgegen, das in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts alt und bucklig wirkt. Aus einer bereits als „durchaus traditionell“ zu bezeichnenden militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Osmanischen Reich, an der dieses mal der Zar wohl die Hauptschuld trägt, wird aus reinem Machtkalkül britischer und französischer Kreise heraus eine der größten militärischen und humanitären Katastrophen des 19. Jahrhunderts: der Krimkrieg (1853 – 1856). Knapp ist Europa dabei an einem ersten Weltkrieg vorbeigeschrammt. Der Verlauf des Krieges legt die Rückständigkeit des riesigen russischen Reiches bloß. Großbritannien will Russland demütigen, stößt damit letztendlich aber einen Modernisierungsprozess im Zarenreich an.
Zentraler Teil dieser Modernisierung ist der drängende und dringende Ausbau der Kommunikations- und Verkehrsstrukturen des Landes. Dieser Ausbau ist einerseits Teil der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung – er beschleunigt auch das Alltagsleben der Bevölkerung – und der wirtschaftlichen Erfordernisse. Andererseits ist er aber in besonderem Maße militärischen und strategischen Notwendigkeiten geschuldet. Zudem ist er die Basis dafür, weit entfernte Gebiete des Reichs zu integrieren. Oft weiß man nämlich am einen Ende des Landes nicht, was am anderen Ende gerade vor sich geht. Zwecks dieser Integration wird in den Telegraphenstationen und Bahnhöfen des Landes die Zeit der Hauptstadt St. Petersburg gelten.
Russland investiert nun enorm in den Ausbau dieser Infrastruktur. Angesichts der Größe des Landes, seiner extremen geographischen Gegebenheiten und der auch damit zusammenhängenden Strukturschwächen erscheint dieser mächtige Vorantrieb der technischen Modernisierung oft als nicht mehr wie sehr viele Tropfen auf einen ziemlich heißen Stein. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf die Idee, die sibirischen Weiten bis zum Pazifik strukturell an den europäischen Teil des Reichs anzubinden. Hier entspannt sich eine ausgedehnte Diskussion unter den politischen und technischen Eliten des Landes, die schließlich dahin führt, dass man Väterchen Zar (Alexander III.) von der Notwendigkeit des Baus einer durchgehenden Eisenbahnverbindung bis nach Vladivostok an der Pazifikküste überzeugen kann.
Diese Diskussion weckt im Ausland sofort großes Interesse an dem Bau einer solchen transsibirischen Verbindung. Allerdings werden Angebote ausländischer Investoren von St. Petersburg höflich zurückgewiesen. Das ausländische Interesse, gerade auch aus den Vereinigten Staaten, schärft in Russland das Bewusstsein für die strategische Bedeutung einer solchen Eisenbahnlinie. Es bleibt niemanden verborgen, dass der Bau strategischer Natur ist und die Voraussetzungen für die Herrschaft über die angrenzenden Gebiete schafft. In der Öffentlichkeit wird sogar darüber spekuliert, dass amerikanische Unternehmer mit ihrem Angebot, Teile der Bahnlinie zu bauen, in Wirklichkeit britischen Handelsinteressen schaden möchten.
Da die sibirischen Weiten wirtschaftlich interessant, aber dünn besiedelt sind, fürchtet man in St. Petersburg, dass die Leere des Landes andere dazu animiert, sie aufzufüllen. Insbesondere Chinesen könnten sich angezogen fühlen, aber auch US-Interessen haben offenbar ein Auge auf diesen Raum geworfen. Zudem machen sich die Russen große Hoffnungen, durch den schnelleren Transportweg gegenüber den großen Playern auf der Erdkugel konkurrenzfähiger zu werden. Also möchte man kein direktes Engagement des Auslandes dabei haben.
Da der Bau einer Eisenbahnlinie durch Sibirien keine alltägliche Sache ist, schickt nun St. Petersburg Ingenieure ins Ausland, um dort Erfahrungen zu sammeln. Insbesondere der Eisenbahnbau in den Vereinigten Staaten und Kanada gelten als Vorbild. Irgendwann versteht man allerdings, dass sich die Gegebenheiten in der Wildnis der Rocky Mountains nicht wirklich mit den Verhältnissen in Sibirien vergleichen lassen. Man muss eigene Lösungen finden. Die Überquerung der großen Flüsse und Seen, die Durchquerung von Sumpfgebieten, sowie der Verlauf der Bahnstrecke auf Permafrostböden stellen spezifische Herausforderungen in Sibirien dar, von den dort, herrschenden extremen Temperaturen mal ganz abgesehen. Man plant also und plant und dabei scheint das Projekt des Baus einer transsibirischen Eisenbahnverbindung fast schon das übliche Schicksal von Projekten im zaristischen Russland zu nehmen: Ein Vorhaben wird in einem solchen Falle zunächst einer Kommission zugewiesen, die im Bestreben, es möglichst gut zu machen, so lange plant, bis man völlig darauf vergisst, das Projekt auch umzusetzen. Doch treibende Kraft für die Umsetzung des Vorhabens ist eine Zentralfigur des Übergangs Russlands in die Moderne, Finanzminister Sergej Vitte. So fällt der Startschuss für den Bau 1891. Der Bau läuft unter zwei Bedingungen: man ist spät dran, einerseits und andererseits, das Riesenprojekt ist finanziell nur schwer zu stemmen. Vitte entscheidet sich dafür, möglichst schnell und möglichst kostensparend zu bauen. Der Bau erfolgt daher nur eingleisig und die Materialien, die verwendet werden, sind nicht die Besten. Das hat Folgen.
Zunächst einmal stößt man aber beim Bau schnell auf Schwierigkeiten. Vor allem im Fernen Osten stellen sich die Planungen als realitätsfremd heraus. Die Natur nimmt auf die Absichten der Ingenieure keine Rücksicht. Man hat also etliche Teile des Streckenverlaufs neu zu planen und zu bauen. Zudem ist das Projekt eine logistische Herausforderung sondergleichen. Man muss ein ganzes Heer von Arbeitern auf die Beine stellen, das dann in unbewohnte Gebiete verlegt und versorgt werden muss. Da man den Bau von beiden Enden der geplanten Bahnstrecke her beginnt, muss zu dem ein Teil des Bau- und Versorgungsmaterials zuerst von Europa um die halbe Welt geschifft werden, um es in Vladivostok anlanden zu können. Dass dabei nicht alles gut gehen kann, versteht sich von selbst und dass viele Arbeiter den realen Arbeitsbedingungen nicht gewachsen sind, vergisst man heutzutage als Eisenbahnliebhaber, der sich dem Mythos Transsib hingibt, allzu leicht.
Trotz aller Widrigkeiten gibt es den unbedingten Willen das Projekt durchzuziehen und die neue transsibirische Eisenbahnlinie im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden zu stampfen. 1899 ist man vom Westen kommend bis Irkutsk fertig. Der Baikalsee wird zunächst mit Schiffen überquert, bzw. im Winter nagelt man gegebenenfalls auch Schienen auf die Eisfläche des Sees. Bereits 1903 kann man vom östlichen Seeufer bis Vladivostok weiterfahren, ab 1904 ist auch die Umfahrung des Baikalsees fertiggestellt, sodass ein durchgehender Schienenstrang existiert. Da sich die Fertigstellung der ursprünglich geplanten Bahnstrecke im Fernen Osten sichtlich verzögert, bekommt dafür ein anderes Vorhaben an Gewicht, das von Finanzminister Sergej Vitte deutlich präferiert wird: Der Bau der Strecke durch die chinesische Mandschurei. Die eigentliche Trasse der Transsib muss die Mandschurei in einem großen Bogen umfahren, um bis nach Vladivostok zu gelangen. Man kann aber mit einer Abkürzung direkt durch die Mandschurei stechen. Vitte begibt sich mit dieser Idee, die aufgrund der angesprochenen Bauverzögerungen zunächst Voraussetzung dafür ist, Vladivostok überhaupt mit der Bahn zu erreichen, allerdings auf ein glattes Terrain.
Zunächst geht alles gut. Vitte bekommt von China eine Konzession zum Eisenbahnbau durch die Mandschurei und damit auch eine Basis zur wirtschaftlichen Durchdringung der Region. Russland kann sich mit dieser Bahnlinie Einfluss sichern und der russischen Industrie Absatzmärkte eröffnen. Die Gründung einer Russisch-Chinesischen Bank, finanziert mit französischem Kapital, verleiht diesem Vorhaben die finanzielle Grundlage. Eine solch friedliche, wie auch gleichzeitig imperialistische Durchdringung des ostasiatischen Raumes könnte auch Vorbild dafür werden, andere zentral- und südasiatische Räume an Russland zu binden, aber Theorie und Praxis sind nicht das Selbe. Russlands Wirtschaftskraft reicht bei weitem nicht aus, um den durch die Mandschurei eröffneten Raum auszufüllen. So greift Russland im sog. „Boxeraufstand“ zu härteren Mitteln und schließt sich der westlichen Angriffskoalition gegen China an. Die Mandschurei wird militärisch besetzt. Damit kann Russland auch nach dem Ende der Kriegshandlungen von China Zugeständnisse fordern: Man kann mit seinen Truppen in der Mandschurei verbleiben, offiziell, um die eigene Eisenbahnlinie zu schützen, die im „Boxeraufstand“ zerstört worden ist.
Vittes Konzept einer friedlichen Durchdringung ist damit gescheitert, aber immerhin ist er sich bewusst, dass Russland zu wenig ökonomische Kraft besitzt, um die anderen imperialistischen Mächte im ostasiatischen Raum herausfordern zu können. Daher will Vitte eine offene Konfrontation vermeiden. Dieser Ansatz setzt sich allerdings in St. Petersburg nicht durch. Vitte fällt zunehmend bei Hof in Ungnade und wird schließlich 1903 von seinem Posten abgelöst. Da hilft es auch nicht, dass ausgerechnet Russlands Kriegsminister zu einem defensiveren Vorgehen im Osten rät. Die Kräfte, die jetzt in St. Petersburg am Ruder sind, üben keine solch vornehme Zurückhaltung und setzen auf eine offensive Ostasienpolitik. Dabei ist man in seiner Selbstüberschätzung so sehr gefangen, dass man die am Horizont heraufziehende Konfrontation nicht erkennen will. Im Februar 1904 greift die japanische Flotte unerwartet die vor Port Arthur liegenden russischen Kriegsschiffe an und daraus entsteht der Russisch-Japanische Krieg, der sehr zur Überraschung der russischen Führung mit einem Sieg des vermeintlichen „Underdog“ Japan endet.
Der Zar reaktiviert daraufhin den abgehalfterten Vitte für die in den USA stattfindenden Friedensverhandlungen. Dieser möge doch jetzt bitte die glühenden Kohlen aus dem Feuer holen. Tatsächlich bleibt Russland bei den Verhandlungen durch Vittes gekonntes Auftreten die große Blamage erspart, aber der Schaden aus dem Krieg ist nicht mehr gut zu machen: U.a. geht der russische Flottenstützpunkt Port Arthur verloren und im Zarenreich entwickelt sich aus der Kriegsniederlage eine Revolution (1905).
Zur Erinnerung: es geht eigentlich nur um eine Eisenbahnlinie.
Diese Bahnlinie, die transsibirische Eisenbahnverbindung vom Ural nach Vladivostok an der Pazifikküste hätte in diesem Krieg eine entscheidende Rolle spielen sollen. Dass sie das nur in einem eingeschränktem Maße tun kann, ist bereits von Anfang an klar. Nicht nur die Möglichkeiten zum Truppentransport, ganz allgemein bleiben die Kapazitäten der neuen Bahnstrecke weit hinter ihren Erwartungen zurück. Aufgrund des nur schwach ausgelegten Unterbaus, der billigen Schienen und der geringen Tragfähigkeit der Brücken, kommt es schon bald nach Eröffnung der Strecke zu einer Unzahl an schweren Unfällen mit einer nicht geringen Anzahl an Todesopfern. In der Folge fahren Personenzügen nicht mehr schneller als 21km/h über die Strecke und bei Güterzügen gilt eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 12km/h. Das bedeutet, die Fahrt auf der Strecke Moskau – Vladivostok dauert zunächst eineinhalb Monate. 1912 schafft ein Luxuszug die Strecke erstmals in neun Tagen. 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, wird dann auch die Umfahrung der Mandschurei entlang des Flusses Amur fertiggestellt, sodass erstmals eine innerrussische Eisenbahnverbindung von der Ostsee bis an das pazifische Meer existiert.
Die Transsib bleibt auch für die Nachfolger des Zaren, die Sowjet-Führung, eine ewige Baustelle: Es wird weiter an einer zweiten Spur gebaut, Brücken und Unterbau werden auf leistungsfähige Standards gebracht und im Westen bekommt die Strecke vom Moskau bis Omsk eine etwas weiter nördlicher gelegene Linienführung als bisher. Langsam aber sicher wird die Transsib auch elektrifiziert. Letzteres kommt im Jahre 2002 zum Abschluss. Zudem muss die Strecke aufgrund der extremen klimatischen Bedingungen stärker im Auge behalten werden, als irgendeine andere Eisenbahnlinie am eurasischen Kontinent.
Die Sowjets bauen dann in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts noch eine zweite transsibirische Eisenbahnverbindung. Da die klassische Transsib-Route eigentlich nur den Süden Sibiriens durchfährt und dabei über eine sehr lange Strecke entlang der mongolisch-chinesischen Grenze geführt wird, wird eine strategisch weniger anfällige Linie weiter im Landesinneren errichtet: die BAM, die Baikal-Amur-Magistrale. Diese verläuft gleichsam parallel zur Transsib-Strecke. Sie tangiert das Nordufer des Baikalsees und endet nach der Überquerung des Amur in der pazifischen Hafenstadt Sowjetskaja Gawan, einem wichtigen Verbindungshafen zur Insel Sachalin. Der Bau der BAM ist für die Sowjetführung ein ähnliches Prestigeprojekt wie die Errichtung der Transsib. Doch diese zweite Eisenbahnverbindung durch Sibirien bekommt bei weitem nicht jene Bedeutung, wie die klassische transsibirische Linie.
Trotz aller Mangelhaftigkeit, trotz des gefährlichen Zustands der Strecke führt die Transsibirische Eisenbahnlinie nach ihrer Fertigstellung bald zu einem stetigen Wirtschaftsaufschwung in den erschlossenen sibirischen Gebieten. Zahlreiche Neuansiedler werden angelockt und lassen sich entlang der Eisenbahntrasse nieder. Die Städte blühen auf. Und noch etwas geschieht: ein Mythos entsteht, vor allem im Ausland und wirkt bis heute fort. An der Entfachung dieses Mythos ist Russland selbst an vorderster Front beteiligt:
Auf der Weltausstellung 1900 in Paris stellt das Zarenreich den Bau der Transsibirischen Eisenbahn in den Mittelpunkt seiner Präsentation. Dass die Darstellung des Themas angesichts der realen Möglichkeiten der Bahnlinie nach dem Motto „mehr Schein als Sein“ erfolgt, ist nachvollziehbar. Russland verfolgt mit der Präsentation aber vor allem ein Ziel, nämlich sich als moderner, fortschrittlicher europäischer Staat darzustellen, der auf Augenhöhe mit den anderen europäischen Großmächten agiert. Dabei wird vor allem eine besondere Kulturleistung hervorgehoben: die Durchdringung Asiens mit der christlichen europäischen Kultur. Möglicherweise hat man in Mittel-Westeuropa diesen Umstand bis heute nicht so recht verstanden. Der lange Arm europäischer Kultur reicht tatsächlich bis an die Grenzen Nordkoreas. Die Transsib endet nur wenige 100 Eisenbahn-Kilometer von Nordkorea entfernt (die Entfernung per Luftlinie ist noch kürzer).
Der Präsentation der Transsib auf der Pariser Weltausstellung wird mit regem Interesse begegnet. Der Mythos Transsib, der sich dabei begründet, ist nicht nur technisch gespeist. Die Transsib verändert in Westeuropa auch eine Weltsicht: Sibirien, das bisher als etwas Dunkles, Undurchdringbares wahrgenommen worden ist, öffnet sich und beginnt gleichsam von Licht durchflutet zu werden. Und damit rückt auch der asiatische Kontinent als Ganzes näher an Europa heran. Die Ausstellungsmacher gaukeln den Besuchern eine Fahrt mit der Transsib nach Peking vor – was damals aber noch gar nicht möglich gewesen ist.
Russland verändert und erweitert also mit der Transsibirischen Eisenbahn auf vielfältige Weise die Wahrnehmung, die Europa vom eurasischen Kontinent besitzt und damit wird es auch schon wieder gefährlich. Denn nicht alle finden eine solche Veränderung gut. Besonders in Großbritannien mehren sich die Stimmen, die vor dem Projekt warnen. Auf der Insel sieht man klar, dass mit der Transsib die Interessen des Königreichs in Asien unterlaufen werden könnten und dass Russland als Verbindungsland zwischen Europa und Ostasien bzw. Japan eine strategische Zentralstellung bekommen würde. Die Transsib werde zu einer der größten Verkehrsadern der Welt und zu einem politischen Instrument entwickelt, ist sich ein britischer Beobachter sicher und schließt daraus, dass sich in der Folge der Machtanspruch Russlands gegen die britischen Interessen in Indien richtet.
Dieser Hinweis auf die Gefährdung der britischen Macht in Indien durch Russland ist gleichsam der Running Gag der britischen PR-Strategie gegen Russland. Bereits Ende der 1820er Jahre wird erstmals die Idee unters britische Volk gebracht, Russland möchte sich des indischen Subkontinents bemächtigen. Die Angst vor dem Verlust Indiens durch die Expansion Russlands wird seitdem durch die britischen Medien gezielt geschürt und obwohl kaum jemand im offiziellen London an diese Geschichte glaubt, wird sie zunehmend das geostrategische Handeln der britischen Politik prägen. Schließlich sind es doch die britischen „Qualitätsmedien“, die Ihre Leser von dieser sogenannten „Tatsache“ überzeugen können und daher dringenden Handlungsbedarf sehen. Kein Wunder also, dass auch der Bau der Transsib Anlass gibt, die Ängste der Briten vor der dunklen russischen Gefahr weiter zu schüren. Dass auf russischer Seite tatsächlich nie die reale Absicht bestanden hat, die eigene Macht nach Indien auszudehnen und weder die wirtschaftlichen noch die militärischen Möglichkeiten Russlands für einen solchen Schritt ausreichen würden, braucht man den britischen Lesern ja nicht zu sagen.
Trotzdem, dass die reale Ausgestaltung der Transsib weder den hohen Erwartungen im Inland, noch den geschürten Ängsten im Ausland gerecht werden kann, wird die Transsib doch ein bedeutender Teil der sich verändernden Weltlage. Auch deshalb, weil die Eisenbahnlinie zahlreiche russische Neusiedler mit sich in den Osten bringt. Die alleinige Weltmacht sind zu dieser Zeit die Briten und ihre Macht beruht auf der Beherrschung der Weltmeere und der Flussmündungen als den wichtigsten Transportrouten. Ihre erst allmähliche technische Durchdringung der maritimen Randgebiete, also ihrer Kolonien, ist zudem meist nicht mit einer Neu-Ansiedelung in großem Stil von britischen Bürgern verbunden. Der Ausbau der binnen-asiatischen Transport- und Kommunikationswege gibt jedoch die Möglichkeit, sich auf dem eurasischen Kontinent ohne Rücksicht auf britische Interessen zu organisieren. Damit wäre Großbritannien seine Bedeutung am Kontinent los.
Das Beispiel „Tee“ gibt einen kleinen Einblick in die Verschiebung der Gewichte: Der allergrößte Teil der Teetransporte aus Asien nach Europa ist durch die Seemächte, insbesondere unter der Kontrolle Großbritanniens erfolgt. Bei dem monatelangen Transport auf hoher See kommt es jedoch zu einer Qualitätsminderung des Tees. Dieser lagert in geteerten Schiffsbäuchen und die Teeblätter nehmen die salzige Seeluft an. Russland importiert dagegen seinen Tee aus China, der über Karawanen ins Land gebracht wird. Dieser Transport dauert mindestens doppelt so lang wie auf See, aber der Karawanentee wird am Transportweg gewissermaßen veredelt. Die Karawanen ziehen über hohe Gebirgspässe, mit reiner, klarer Luft und am Abend lagern sie an Feuern, dessen Rauch von den Teeblättern aufgesogen wird. In Europa ist dieser „russische“, geräucherte Tee sehr begehrt, aber auch sehr teuer, da die verfügbaren Mengen vergleichsweise gering sind. Mit der Transsib kann Russland jetzt den gesamten Transportweg des Tees auf wenige Wochen verkürzen und die Transportmenge um ein Vielfaches steigern. Damit wird der solcherart transportierte Tee auch billiger. Der dabei verlorengegangene Rauch-Geschmack des Tees wird gegebenenfalls durch eine Mischung mit geräuchertem Tee wie Lapsang Souchong ersetzt. In Mitteleuropa setzt sich damit der aus Russland importierte Tee gegenüber dem britischen mit dem Teer-Salzgeschmack durch, sodass Schwarz-Tee hierzulande wörtlich zum „russischen Tee“ wird.
Die Transsib verändert das machtpolitische Denken in der Welt
Die Transsibirische Eisenbahn, der ebenfalls erfolgte Bau der Transkaspischen Bahn, sowie andere Verkehrsprojekte und die damit verbundenen Veränderungen der Binnenstrukturen Sibiriens und Zentralasiens rufen Beobachter auf den Plan, die die Bedeutung der Vorgänge zu interpretieren versuchen. Gewisse Bekanntheit erlangt dabei ein Herr Halford Mackinder, ein spätberufener britischer Geograph, der sich auf die Entwicklungen in Asien seinen eigenen Reim macht.
Mackinder ist in Großbritannien eine Schlüsselfigur bei der Etablierung des Faches Geographie als akademische Disziplin und wird der Gründungsdirektor der London School of Economics. Als ordentlicher Geograph seiner Zeit geht er auch auf Expedition und ist mit Kollegen Erstbesteiger des Mount Kenia. Doch die Berge sind es nicht, die Mackinder umtreiben. Was ihn bewegt, ist der Bedeutungsverlust der See- und Weltmacht Großbritannien durch den inneren Umbau am eurasischen Kontinent. Dabei nimmt er speziell ein Land ins Visier, das dem Machtanspruch der Briten etwas entgegenzusetzen scheint: …….. Russland.
Das überrascht jetzt nicht wirklich.
Mackinder macht jedoch nicht den Fehler, angesichts des medialen Hochpushens von Phantom-Gefahren – Stichword Indien –, die tatsächlichen Fragestellungen zu übersehen. Trotzdem bleibt er im überlieferten Denken verhaftet. Im Ersten Weltkrieg empfiehlt er daher, zwischen Deutschland und Russland eine Gruppe von Kleinstaaten zu schaffen, um die beiden Mächte voneinander zu trennen – der Zerfall der Donaumonarchie lässt grüßen. Nach dem Ersten Weltkrieg eröffnet sich für Großbritannien eine Chance, die sich viele Mächte wünschen würden: nämlich gleich selbst in Russland umrühren zu können. Die Möglichkeit dazu bekommt man schließlich nicht oft. Die Briten greifen in den Bürgerkrieg in Russland ein – auf Seiten der …erraten… Weißen – und Mackinder kann als britischer Hochkommissar in Südrussland schalten und walten, ohne jedoch die Weltlage nur irgendwie nach seinem Vorstellungen verändern zu können. Es scheitert einfach, Russland unter Kontrolle zu bekommen.
Aber Mackinder gibt noch nicht auf. Das letzte Ass, das er in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts aus dem Ärmel zieht, besteht in seiner Empfehlung, eine atlantische Achse zu gründen. Eine solche Achse werde stark genug sein, Russlands Macht einzudämmen…. Mackinders auf die Beschränkung Russlands fokussiertes Denken basiert auf einer Theorie, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hat und erstmals 1904 in der Öffentlichkeit präsentiert. Ein starker Anstoß dafür die Theorie zu formulieren, ist der Bau der transsibirischen Eisenbahnverbindung nach Vladivostok. Mackinder geht also in die Königliche Geographische Gesellschaft in London und entfaltet dort in einem Vortrag seine Sicht auf die stattfindenden Veränderungen und ihre Folgen für den britischen Herrschaftsanspruch. Diese Weltsicht wird später unter dem Namen Heartland-Theorie bekannt und in einer breiten Allgemeinheit auch wieder vergessen.
Doch in Wirklichkeit streut Ihre Wirkung bis in die Gegenwart, denn auch der anfangs eingeführte Zbigniew Brzezinski, Henry Kissinger und andere Kollegen dieser Größenordnung sind von ihr beeinflusst. Am Wegesrand des Gangs dieser Theorie durch die Geschichte steht allerdings auch der verabschiedete bayrische Weltkriegsoffizier Haushofer, der die Theorie aufgreift und für deutsche Zwecke adaptiert, was ihn in die Nähe Hitlers rückt. Mackinder wird für diese Zweckentfremdung seiner Theorie durch deutsche Interessen arg unter Beschuss kommen.
In drei „Sätzen“ erklärt, geht diese erste und wichtige geopolitische Theorie so:
1. Mackinder weiß:
die „Musi“ spielt auf dem eurasischen Kontinent (zusammen mit Afrika), den er Weltinsel nennt und wer nicht auf dieser Weltinsel beheimatet ist, tut sich schwer, mitzuspielen.
2. Mackinder definiert:
es gibt ein Kernland am eurasischen Kontinent, das pivot-area, also Drehpunktgebiet oder Heartland. Dieses Heartland umfasst (in seiner ursprünglichen Formulierung) das Gebiet von der Wolga ostwärts, den größten Teil Sibiriens, Teile des Kaukasus, Persiens, Afghanistans, Chinas und mehr oder weniger ganz Zentralasien.
3. Mackinder sagt:
Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Heartland.
Wer über das Heartland herrscht, beherrscht die Weltinsel.
Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“
Das Problem dabei: Osteuropa und das Heartland ist zu größten Teilen in Besitz Russlands bzw. die Sowjetunion deckt in noch größerem Ausmaß dieses Heartland ab. Großbritannien, oder später die USA haben keinen entsprechenden Zugriff auf diese Gebiete. Die Schlussfolgerungen aus dieser Diagnose sind klar: die Mächte abseits der Weltinsel müssen diese Vorherrschaft Russlands bzw. der Sowjetunion über das Heartland beschränken, wenn sie im so wahrgenommenen Verteilungskampf nicht zu kurz kommen wollen.
Die Heartland-Theorie ist unter Fachleuten klarerweise wohl durchdiskutiert. Den vielleicht wichtigsten Beitrag dazu hat ein Herr aus den Niederlanden geliefert, der an der US-Eliteuniversität Yale Karriere gemacht hat: Nicholas John Spykman. Spykman lebt nur kurz und stirbt als Hochschullehrer bereits in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Eines seiner beiden Werke gibt er noch selbst heraus, das andere, das sich insbesondere mit Geopolitik befasst, wird ein Jahr nach seinem Tod von seinen Mitarbeitern und Schülern herausgegeben, wobei allerdings auch deren Sichtweisen mit einfließen. Spykman formt Mackinders Heartlandtheorie um und entzieht dabei dem Heartland Bedeutung, die er jenem Gebiet zuschlägt, das das Heartland gewissermaßen umschließt. Dieses Gebiet, das Spykman „Rimland“ nennt, zieht sich von Mittel-Osteuropa über den Nahen Osten und Südasien bis hin nach Ostasien. In Anlehnung an Mackinders Definition der Weltherrschaft heißt es bei Spykman: „Wer Rimland kontrolliert, beherrscht Eurasien. Wer Eurasien beherrscht, bestimmt das Schicksal der Welt.“ Die USA, Großbritannien und Russland würden sich daher auf diesem Rimland die Machtverhältnisse in der Welt ausmachen. In Anbetracht der Realen Geschichte wird klar, dass auch Spykmans Theorie bei der Ausübung des Kampfes um Einfluss auf der Erdkugel ihren Platz gefunden hat.
Obwohl Mackinders und Spykmans Theorien angesichts ihrer Wirkungsgeschichte die in Stein gemeißelte Botschaft des Gottes der Geopolitik zu sein scheinen, sagt schon Mackinder: „Jedes Jahrhindert hat seine eigene geographische Perspektive“. Auch Geopolitik muss also den Zeitverhältnissen angepasst werden. In diesem Sinne erscheint im September 1956 in der Zeitschrift Western Political Quarterly (heute: Political Research Quarterly) ein Aufsatz eines jungen Wissenschaftlers, der gerade am Anfang seiner akademischen Karriere steht und versucht einen zeitgenössischen Ansatz für Geopolitik zu finden. Nun könnte man sagen, na ja, 1956, das ist doch Ur- und Frühgeschichte. Und das ist es auch tatsächlich: nämlich die Frühgeschichte des Kalten Krieges. Der Sputnik-Schock steht noch bevor und zwingt zu einem weiteren Umdenken, doch der Autor beschreibt in dem Aufsatz eine Sichtweise, die einem die Vorgänge in der Welt weiter entschlüsseln können.
Der junge Autor ist der in Washington promovierte Donald W. Meinig, damals gerade an der Universität Utah engagiert. Seine Karriere führt in als Professor an die Syracuse University im Bundesstaat New York, wo er schließlich als Maxwell Research Professor of Geography emeritiert wird. Meinig, dessen Vorfahren aus Sachsen stammen, schreibt eine ganze Reihe von Büchern, allen voran das 4-bändige Opus magnum The Shaping of America (die Gestaltung Amerikas), das als „Landmark“ der wissenschaftlichen Literatur über die USA bezeichnet wird und in dessen 4. Band er auch auf das Verhältnis der Vereinigten Staaten zur globalen Welt eingeht. Meinigs Werk wäre wohl als ein Schlüssel für einen Einblick in das Selbstverständnis der USA zu bezeichnen, ist aber in unseren Breiten kaum bekannt.
In seiner frühen geopolitischen Analyse von 1956 geht nun Meinig respektvoll kritisch auf die Theorien von Mackinder und Spykman ein und wendet sich dann in weiterer Folge der aktuellen Lage zu. Die Sowjetunion beschreibt Meinig in ihrem eigentlichen Charakter als einen Teil des Spykmanschen „Rimland“, das den größten Teil des Heartland erobert hat und assimiliert, da ihr wirtschaftlicher und landwirtschaftlicher wie auch bevölkerungsmäßiger Schwerpunkt im europäischen Teil der UDSSR, also westlich des Heartland liege. „Das Dreieck Moskau, Ural, Ukraine ist nach wie vor der funktionale Schwerpunkt der Nation.“ Nur wenn es gelänge, diese Struktur auf Sibirien und Zentralasien zu übertragen, könnte die Sowjetunion in vollem Ausmaß den Vorteil dieser besonderen Eigenschaften, die der Heartlandposition innewohnen, voll ausschöpfen. Meinig hat natürlich 1956 noch nicht wissen können, dass die Sowjetunion 1991 zusammenbrechen wird. Aber im geschilderten Sinne könnte man diesen Zusammenbruch so deuten, dass es der UDSSR eben nicht gelungen ist, die Gebiete des Heartland ausreichend in Richtung dieses funktionalen Schwerpunktes zu assimilieren.
Das volle Potential, schreibt Meinig weiter, das in der Erweiterung der politischen Macht nach Osten möglich wäre, könnte man nur dann auszuschöpfen, wenn entsprechende wirtschaftliche Muster ausgearbeitet sind. Die vorrevolutionären Bemühungen (Transsib etc.) seien allerdings zu schwach gewesen. Erst mit den 30er Jahren unter Stalin seien die Pläne ausgeweitet und das Tempo des Wandels enorm beschleunigt worden. Aber um das ganze Potential des Heartland tatsächlich zu entfalten, bedürfe es mehr als nur innere wirtschaftliche Entwicklung. Notwendig wäre das Weben eines Schienen-, Autobahn-, Pipeline- und Luftnetzes über die Grenzen hinweg und die Entwicklung einer regionalen und nationalen Gegenseitigkeit zwischen Heartland und Rimland. Dabei fügt Meinig noch geheimnisvoll hinzu: „Diese Art der wirtschaftlichen Durchdringung hat bereits die politische Dominanz des östlichen Heartland in Sinkiang ( = das Land der Uiguren. MiSchü) und der Äußeren Mongolei (= der Staat Mongolei. MiSchü) untermauert, und ähnliche Pläne für Afghanistan sind offenbar im Gange.“
Dann kommt Meinig offensichtlich zu einer Schlüsselaussage: „Wirtschaftsbeziehungen müssen nicht mit fremder politischer Kontrolle überlagert werden, um geopolitische Bedeutung zu erlangen. Sie müssen nur ein Niveau erreichen, in dem die wirtschaftliche Stabilität einer der Nationen auf der Aufrechterhaltung dieser Beziehungen beruht. Es ist durchaus denkbar, dass das Heartland wieder zum Knotenpunkt lebenswichtiger Handelswege mit und zwischen dem Rimland wird und dass die Sowjetunion allmählich ein Muster wirtschaftlicher Interdependenz mit all ihren angrenzenden Nationen aufbauen kann. Auf diese Weise könnte sie ohne militärische Gewalt oder politische Durchdringung ein gewisses Maß an Herrschaft über den größten Teil Eurasiens erreichen. Eine solche Entwicklung würde offensichtlich eine grundlegende Veränderung der geopolitischen Muster der Alten Welt mit weitreichenden wirtschaftlichen, politischen und strategischen Auswirkungen auf den gesamten Globus bedeuten.“
Die Idee, dass eine Binnenlage („landlocked interior position“) als implizit nachteilig angesehen wird, sei eine stereotype Sicht des Westens auf die Welt, schreibt Meinig. Sobald aber ein effizientes Landtransportsystem verfügbar wurde, war Russland in einer Position mit enormen potenziellen Vorteilen, da es sich in direkten funktionalen Kontakt mit dem gesamten Rimland bringen konnte. Und es ist dieses zum Landesinneren neu ausgerichtete Rimland…., das die größte Gefahr für die westliche Welt darstelle. Interpretationen müssten auf den funktionalen Bedingungen von Vergangenheit und Gegenwart beruhen, meint Meinig weiter. Der konzeptionelle Rahmen der Interpretation der Vorgänge müsse aufgefächert werden, um eine praktischere Relevanz zu erreichen und durch eine breitere Anwendbarkeit den nützlichen Begriffen des Heart- und Rimland von Mackinder und Spykman eine größere Bedeutung und Stabilität verleihen.
Rein militärisch-strategische Analysen seien von Natur aus vergänglich, aber Strategie sei auch eine Sache von Friedenszeiten und eine solide geopolitische Strategie müsse immer auf den national-kulturellen Gruppen der Völker in ihren regional-globalen Umgebungen beruhen. Positionskonzepte müssten aus ihrem militärischen Kontext herausgenommen werden, um ihnen eine breitere Bedeutung zu geben. Die grundlegenden geopolitischen Muster der Welt seien von Natur aus dynamisch und ändern sich von Tag zu Tag, oft unergründlich, immer komplex. Es sei wichtig, dass unser Weltbild diese Veränderungen widerspiegele, und dies erfordere generalisierte Werkzeuge und Konzepte.
Meinig kommt damit zu dem Schluss: „Die Rezession des maritimen Rimland, die innere Neuausrichtung einer breiten Randzone und die allmähliche Entwicklung der Sowjetunion zu einer wahren Kernlandmacht mit allen Vorteilen, die dieser zentralen Position innewohnen, sind entscheidende Trends unserer Zeit und müssen in der Formulierung der Politik anerkannt werden. Die Vereinigten Staaten mögen die Quelle („Repository“) einer gewaltigen Vergeltungskraft sein, aber dies allein kann kaum eine wünschenswerte Weltposition garantieren. In Bezug auf unsere effektive Friedensposition in Asien befinden wir uns in der nicht beneidenswerten Situation, die fremde Nachfolgemacht zu sein, die versucht, an dem stetig schrumpfenden maritimen Rimland festzuhalten. Schon jetzt müssen wir uns hauptsächlich auf dem Inselrand ausruhen – Japan, Oki-nawa, Formosa, Philippinen. Unsere Position auf dem asiatischen Festland ist überall schwach und instabil, und unsere Position in Europa scheint sich zu schwächen. Die (erfolgte) Änderung der Politik durch die Sowjetunion werde mit ziemlicher Sicherheit die von uns festgestellten Trends beschleunigen und damit mit ziemlicher Sicherheit die Verschlechterung der amerikanischen Position am Rande Eurasiens beschleunigen.“
Diese Ausführungen von Donald Meinig, getätigt 1956, ließen den Schluss zu, dass die weißen Spieler am Schachbrett in der Folge den Zusammenbruch der Sowjetunion als Signal verstanden haben, ihre Position im Rimland neu zu bewerten, bzw. zu verbessern und gleichzeitig den Nachfolgestaat der Sowjetunion, Russland, an der Möglichkeit zu hindern, zu versuchen, das Rimland wieder nach innen auf das Heartland hin zu orientieren. Da die Weißen dabei so gut wie alles falsch gemacht haben, haben wir jetzt das große Schlamassel. Und alle Beteiligten und Unbeteiligten versuchen sich in diesem Schlamassel irgendwie zurechtzufinden. In diesem Prozess hat sich der Westen nach eigenem Bekunden – auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 – selbst verloren (Stichwort: „westlessness“).
Eines wird dabei allerdings deutlich: Es wird notwendig sein, die tradierten Konzepte zu verlassen und ein neues Denken über die Welt zu entwerfen, sonst wird sich der Westen auf der nächsten, der übernächsten und auch auf der über-übernächsten Münchner Sicherheitskonferenz immer noch selbst suchen und weiterhin als Ungeheuer Less Ness durch die Welt irren. Und die oben beschriebene neue Denkfabrik in Washington kann nur dann das ewige Kriegführen beenden, wenn sie einen Beitrag zu diesem neuen Denken liefert.
Eigentlich sollte das neue Denken aber von den Europäern ausgehen. Die etwas weltfremd gewordenen Europäer glauben noch immer von sich, der Mittelpunkt der Welt zu sein. Jetzt hätten sie aber die Möglichkeit, tatsächlich wieder zu einem Mittelpunkt zu werden, indem sie den Anstoß zu einem solchen neuen Denken liefern. Doch danach sieht es nicht so ganz aus. Die Chance zieht möglicherweise vorüber und wird dann nicht so schnell wiederkommen. Die britischen Gentle(wo)men haben sich mit dem Brexit nach alter Manier ihren eigenständigen geopolitischen Spielraum erkauft. Der Deutsche Michel (bzw. die Deutsche Michaela) möchte doch bitte endlich mehr „Verantwortung“ übernehmen in der Welt – auf Biegen und Brechen und koste es, was es wolle. Da hat man nicht den Eindruck, als ob versucht werden würde, die Denkweisen des 19. Jahrhunderts hinter sich zu lassen. Einzig aus Frankreich kommen neue Töne, die zumindest so klingen, als ob man etwas verändern möchte. Immerhin, das wäre zumindest ein erster Schritt:
Macrons große Rede
Erschallt sind diese Töne in großem Stil erstmals im August 2019 in einer Rede des Französischen Präsidenten Macron vor seinen Diplomaten. Dummerweise sind unsere Journalisten damals gerade alle auf Urlaub gewesen, sodass man in der deutschsprachigen Öffentlichkeit so gut wie nichts über diese Rede gehört hat. Die geopolitischen Beobachter im Ausland standen aber alle auf ihren Stühlen, um die Rede dennoch mitzubekommen und so wollen wir hier am Schluss noch kurz darauf eingehen, was Macron in der Tat gesagt hat. Es ist nicht ganz unwichtig.
Die Rede ist sehr, sehr lange gewesen, etwa eine Stunde und 45 Minuten, am starken Schlussapplaus kann man jedoch ablesen, dass Macrons Zuhörer die Ausführungen aufmerksam verfolgt haben. Macron beginnt damit, dass er zunächst einmal allgemein den Zustand der Welt beschreibt. Es gäbe tiefgreifende Veränderungen in nahezu allen Bereichen, sagt er, vor allem aber sei es eine geopolitische und strategische Neuordnung. Die Dinge würden durch die von den westlichen Ländern begangenen Fehler in bestimmten Krisen ins Wanken geraten. Zu den Veränderungen hätten auch der Aufstieg neuer Mächte beigetragen, namentlich China, Russland und Indien, die heute stärker politisch geprägt seien und die die Welt wahrhaft logisch, philosophisch und visionär betrachten würden, wozu wir (der Westen, bzw. Europa; MiSchü) nicht mehr imstande seien: „Und all das bringt uns ordentlich aus dem Konzept und veranlasst uns dazu, die Karten neu zu mischen“… …“unsere Gewohnheiten und die Gegebenheiten sind nicht mehr die gleichen. Deshalb sollten wir unsere eigene Strategie überdenken, denn die einzigen beiden, die derzeit in dieser Sache das Sagen haben, das sind die Vereinigten Staaten von Amerika und die Chinesen. Zudem müssen wir uns in diesen Zeiten des Wandels, der großen Umwälzung positionieren: Wir können entweder unbedeutende Verbündete des Einen oder des Anderen sein oder ein bisschen vom dem Einen und ein bisschen von dem Anderen, oder wir entscheiden uns dafür, unseren Teil beizutragen und mitzugestalten.“
Macron geht dann in seiner Rede auf 18 verschiedene Themen ein, die von „Marktwirtschaft“ bis „Methoden erneuern“ reichen. Dazwischen kommt er u.a. auf die Rolle Frankreichs in der Welt zu sprechen und natürlich auf China sowie Russland. Letzteres Thema werden wir uns hier etwas genauer anschauen:
Zunächst betont Macron aber, dass es Frankreichs Rolle sei, die Weltordnung aktiv mitzugestalten und zwar auf Basis des Humanismus, eines französischen Humanismus. Frankreich müsse in diesem Durcheinander seiner Rolle als ausgleichende Macht gerecht werden. Als ausgleichende Macht brauche Frankreich Spielräume und müsse mobil und flexibel bleiben. „Wir sind eine eigenständige Macht. Das sage ich hier mit Nachdruck. Wir haben Verbündete, wir sind Europäer und wir müssen mit unseren europäischen Partnern respektvoll zusammenarbeiten…. Wir sind keine Macht, die der Auffassung ist, dass die Feinde unserer Freunde auch zwangsläufig unsere Feinde sind und wir deshalb nicht mit ihnen reden…. Wir brauchen also unsere eigene Strategie, denn diese Strategie dient unseren Interessen und somit unserer Nützlichkeit für die ganze Welt.“
Nachdem Macron das geklärt hat, kommt er auf den Iran, China und eben Russland zu sprechen: „In meinem Wunsch, diese Beziehungen (zu Russland; MiSchü) neu zu gestalten, bin ich frei von jeglicher Naivität. Ich bin mir aber einiger Dinge gewiss. Wir befinden uns in Europa, genauso wie Russland. Und wenn wir es an einem bestimmten Punkt nicht schaffen, etwas Sinnvolles mit Russland anzufangen, wird eine grundlegend unproduktive Spannung fortbestehen. Es wird weiterhin festgefahrene Konflikte überall in Europa geben. Europa wird weiterhin Schauplatz eines strategischen Machtkampfes zwischen den USA und Russland sein. Und wir werden im Grunde weiterhin die Auswirkungen des Kalten Krieges auf unserem Boden zu sehen bekommen und nicht die Bedingungen für das Projekt der Neuschöpfung der europäischen Zivilisation, das ich eben erwähnt habe, schaffen können. Denn dies ist nur möglich, wenn wir unsere Beziehungen zu Russland sehr, sehr gründlich überdenken. Ich denke zudem, dass es ein schwerwiegender strategischer Fehler ist, Russland von Europa abzustoßen….“
Macron spricht dann das vom Westen so interpretierte Fehlverhalten Russlands in einer Reihe von Fällen an, kommt aber trotzdem zum Schluss: „ Ich glaube, wir müssen in Europa ein neues Gerüst aus Vertrauen und Sicherheit aufbauen. Denn der europäische Kontinent wird nie stabil, nie sicher sein, wenn wir unsere Beziehungen zu Russland nicht befrieden und klären. Dies liegt nicht im Interesse einiger unserer Partner, das muss klar gesagt werden. Und einige werden uns immer zu mehr Sanktionen drängen, weil es in ihrem Interesse ist, auch wenn es unsere Freunde sind. Aber es liegt ganz klar nicht in unserem Interesse. Und ich glaube, dass die Europäische Union und Russland es unbedingt schaffen müssen, zusammen zu halten, um das gerade erwähnte Ziel zu erreichen, in dieser Welt, in der eine Polarisierung droht, wieder ein echtes europäisches Projekt aufzubauen…“ „… zahlreiche Akteure in den Behörden und wirtschaftliche Kräfte werden mittels Attacken und Provokationen versuchen, diesen Weg zu schwächen…. Aber wie müssen aus den festgefahrenen Konflikten auf dem europäischen Kontinent aussteigen.“
Macron geht schließlich auf eine Reihe von Feldern ein, bei denen Frankreich, bzw die EU mit Russland kooperieren sollten: die Kontrolle der konventionellen, nuklearen, biologischen und chemischen Waffen, die Raumfahrt, der Cyberraum, sowie die Schaffung einer technologischen Souveränität auf industrieller Ebene. Weiter kündigt er die Gründung einer Arbeitsgruppe mit Russland an und meint, dass die Voraussetzung für diesen Weg, die Umsetzung des Minsker Abkommens in der Ukraine ist. Dann bittet Macron seine Zuhörer sich in Russland hineinzuversetzen und zu überlegen, welche Strategie das Land für sich selbst verfolgen würde und kommt zu dem Schluss, dass es geradezu auf eine Kooperation mit der EU angewiesen sei. Denn er, Macron, denke, dass es nicht Russlands Berufung sei, Minderheitspartner Chinas zu sein. Und daher müssten wir Russland ein strategisches Angebot machen….
Macron beendet seine Rede dann so: Frankreich und Europa müssten den Mut haben, ihre Denkmuster und Automatismen neu auszurichten. Dem Projekt der europäischen Zivilisation, das wir einst begründet haben, müsse neues Leben eingehaucht werden: in politischer, strategischer und kultureller Hinsicht sowie in Bezug auf unsere Denkweise. „Der Diplomatie kommt diesbezüglich eine entscheidende Rolle zu. Und dieser neue Humanismus, an den ich glaube, den wir errichten müssen und der im Mittelpunkt der Strategie der Regierung stehen muss, muss auch im Mittelpunkt unserer Diplomatie stehen.“
Nun, trotz dieser guten Rede sehen wir im Moment, dass man sich gerade in Frankreich selbst etwas schwer tut mit diesem neuen Humanismus. Aber die Hoffnung lebt!
Nachbemerkungen:
Die Zahlen zu den Kosten des sog. „Kriegs gegen den Terror“ seit 2001 stammen von dem Cost of war project der Brown University.
Die beschriebene neue Denkfabrik, deren Gründung weltweit Aufsehen erregt hat, ist das Quincy Institute for Responsible Statecraft.
Das zitierte Statement von Andrew Bacevich zu Syrien stammt aus dem Interview von Amy Goodman mit Andrew Bacevich in der Onlineausgabe von Democrazy Now, 24 Oktober 2019
Der New York Times Artikel zu den neuen Hyperschallwaffen Russlands: https://www.nytimes.com/2020/01/02/opinion/hypersonic-missiles.html
Der Aufsatz von Donald Meinig in der Zeitschrift The Western Political Quarlerly Vol. 9, No. 3 (Sep., 1956), pp. 553-569 heißt HEARTLAND AND RIMLAND IN EURASIAN HISTORY
Die Rede Macrons vor seinen Diplomaten fand am 27. August 2019 statt und wurde hier nach dem von der französischen Botschaft veröffentlichten Text zitiert. Allerdings gilt das gesprochenen Wort und Macron sah bei seiner Rede nur ab und zu in sein Redemanuskript. Für alle, die des Französischen mächtig sind, gibt es auch einen Videomitschnitt der Rede.
Mackinders geopolitische Theorie vom Heartland wurde nicht nur zu seinen Lebzeiten diskutiert sondern ist auch Heutzutage Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Zwei gute Beispiele dafür sind:
Chowdhury, S. K., & Hel Kafi, A. (2015). The Heartland theory of Sir Halford John Mackinder: justification of foreignpolicy of the United States and Russia in Central Asia. Erschienen in: Journal of Liberty and International Affairs, 1(2), 2015, S 58-70.
Die Autoren schreiben:
Die Studie kam zu dem Schluss, dass die Literatur über die Vereinigten Staaten und Russland auf die Relevanz der Heartland-Theorie hinweist. Die Studie hat die „Geographical Pivot“ -These von Sir Halford J. Mackinder als Analogie zur heutigen Außenpolitik der USA und Russlands in Bezug auf Zentralasien verwendet und festgestellt, dass die außenpolitischen Diskurse beider Staaten sich stark mit der Philosophie von Mackinder befassen. Dies zeigt, dass die Heartland-Theorie immer noch Einfluss auf die außenpolitischen Perspektiven der Vereinigten Staaten und Russlands in Zentralasien hat. Der Wettbewerb um die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten sowie geopolitische und strategische Faktoren prägten die Geopolitik Zentralasiens. Die Kontrolle über natürliche Ressourcen sowie der Marktzugang ist in der Tat das Hauptmotto der außenpolitischen Ausrichtung beider Staaten. Aus der obigen Studie geht hervor, dass solche außenpolitischen Tendenzen von der Heartland Theory of Mackinder nachvollzogen werden. Tatsächlich kann man sagen, dass die „Heartland-Theorie“, die 1904 in seiner Rede skizziert wurde, ein grundlegender Moment für die Geopolitik war. Sein Argument bezüglich der Kontrolle der eurasischen Landmasse (Europa, Asien und Naher Osten) gilt nach wie vor als der wichtigste geopolitische Preis.
Oder:
Yves Lacoste: “The Geographical Pivot of History”: A Critical Reading, erschienen in
Hérodote 2012/3 (No 146-147). Lacoste kommt zu dem Schluss: „Mackinders These ist … streng deterministisch und ziemlich rudimentär.“
Der von Präsident Macron ins Auge gefasste Dialog mit Russland startete im November 2019, und Pierre Wimon als Sondergesandte des französischen Präsidenten für die Sicherheitszusammenarbeit mit Russland hält dabei die Fäden zusammen. Wimon versucht nun mit seinem Gegenüber, Präsidentenberater Juri Uschakow Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themenbereichen ins Leben zu rufen. Man stellt sich auf die Mühen der Ebene von komplexen Verhandlungsführungen ein.
Als sich vor kurzem eine Reihe neuer Botschafter in einem gemeinsamen Termin beim Präsidenten Russlands Wladimir Putin vorstellten, verlor Putin einige freundliche Worte zum anwesenden Deutschen Botschafter, aber die an den neuen französischen Botschafter gerichteten Worte, waren noch ein Stück freundlicher: Frankreich sei einer der wichtigsten internationalen Partner Russlands…